An Wunder mag derzeit niemand so recht glauben, doch betrachtet man die Weihnachtszeit durch Kinderaugen, ist sie immer noch voller Magie. Hier ein Versuch, den Glauben an den Weihnachtsmann auf ein anderes „Wunder“ umzumünzen.Sollten Ihnen Duktus oder Verlauf dieser Geschichte bekannt vorkommen, kennen Sie wahrscheinlich das Vorbild*.
Als die achtjährige Virginia O’Hanlon 1897 in einem Leserbrief an die Zeitung The New York Sun um Aufklärung bat, ob es den Weihnachtsmann wirklich gebe, wurde die Antwort des Redakteurs Francis Pharcellus Church nicht unter der Rubrik „Leserbriefe“, sondern auf der Titelseite gedruckt, wie es bis zur Einstellung der Zeitung 1949 jedes Jahr an Weihnachten wiederholt wurde.
Zeitungen in aller Welt haben dann diese Tradition fortgeführt und geben die Botschaft “Yes, Virginia, there is a Santa Claus” bis zum heutigen Tage weiter.
Church holte damals weit aus, um der Achtjährigen zu versichern, dass es Dinge gibt, die unseren Verstand überfordern, und dass man nicht nur glauben dürfe, was man sehen kann.
Heute ,125 Jahre später, könnte Virginia einen Brief an die Wissenschaftsredaktion der New York Times geschrieben haben. Glauben Sie nicht? Aber genau darum geht es:
„Ich bin acht Jahre alt. Mein Papa sagt, dass in uns drin Millionen von Bakterien leben und dass die gar keine Weihnachtsschokolade mögen. Ist das wirklich wahr?“
Ein ähnlich empathischer Redakteur wie seinerzeit F.P. Church könnte diese Antwort formuliert haben:
Ja, liebe Virginia, das ist wahr. Es sind sogar noch viel, viel mehr Bakterien! Und ja, sie mögen lieber Gemüse als Schokolade. Aber darüber musst Du Dir zu Weihachten keine Gedanken machen. Stell Dir vor, diese Bakterien umgeben Dich wie eine Wolke, die Dich immer begleitet und Dich schützt. Deine persönliche, unsichtbare Virginia-Bakterien-Wolke.
Leider glauben viele Menschen nur, was sie sehen. Ein Menschengeist ist klein, er verliert sich im Weltall. Der Bakteriengeist mag noch kleiner sein, aber dafür gibt es von ihnen unvorstellbar viele. Du hast in einem Gramm Deines Stuhls mehr Bakterien, als es Menschen auf der Erde gibt. Und alle Bakterien zusammen haben einen riesigen Geist, der größer ist als der des Menschen. Man nennt es das Mikrobiom.
Mehr Bakterien in 1 g Stuhl als Menschen auf der Erde
Sieh’ mal, Virginia, im Grunde sind wir ein Misthaufen auf zwei Beinen. Der größte Zoo der Welt. Es gibt ihn so unzweifelhaft, wie es die Liebe gibt. Oder die Sehnsucht. Und die Freude.
Wenn es diesen großen Zoo – das Mikrobiom – nicht gäbe, gäbe es auch den Menschen nicht. Es gäbe keine Virginia, keinen Papa und keine Mama. Es gäbe auch keine Gesundheit, keine Freude, keine Abenteuer. Wir würden nicht lieben können, nicht heiraten und Kinder bekommen. All das steuern unsere Bakterien. Sie sind da, aber wir können sie nicht sehen. Es ist eines der größten Wunder im Kleinen.
Du könntest jemanden ausschicken, das Mikrobiom zu fangen. Keiner würde es kriegen – doch was würde das beweisen? Die wirklich wichtigen Dinge im Leben sind meist unsichtbar. Wunder sieht man nicht. Ja, unterm Mikroskop könnte man einzelne Bakterien sehen. Aber das ist nicht das Mikrobiom! Genauso wenig, wie einzelne Krümel ein Kuchen sind.
Die wirklich wichtigen Dinge sind meist unsichtbar
Wusstest Du, dass alle Mikrobiom-Bakterien auf der Welt eine Sprache sprechen? Diese nennt sich Quorum sensing. Damit unterhalten sie sich untereinander und brabbeln gleichzeitig mit unseren Körperzellen. In China genauso wie in Amerika, in Mexiko oder in Deutschland. Kein Mensch vermag alle Sprachen zu sprechen. Unsere Bakterien sind so viel klüger als wir!
Wir sollten aufmerksam sein mit ihnen. Sie nicht wegputzen, sondern liebevoll behandeln. Wie die besten Freunde. Denn das sind sie für uns. Sie können traurig oder fröhlich sein – wie wir Menschen. Es heißt ja auch, aus einem traurigen Po kommt kein fröhlicher Pups. Wir sollten sie richtig füttern und ihnen nicht mit Fast-Food das Leben schwer machen.
Und statt Antibiotika sollten sie Probiotika bekommen – sonst verlieren wir sie!
„Ist das denn auch wahr?“ kannst Du jetzt fragen. Ja, liebe Virginia, es gibt diese Bakterien. Das ist so wahr, wie es Sonne, Mond und Sterne gibt. Nichts auf der Welt ist wahrer und nichts ist beständiger. Bakterien wird es immer geben. Sie brauchen uns Menschen nicht – aber wir sie.
Behandle sie immer gut, und Du bleibst gesund und fröhlich. Kann es ein schöneres Weihnachtsgeschenk geben?
Ein „wundervolles“ Weihnachtsfest wünscht Ihnen von Herzen
Ihre
Dagmar Praßler
* Falls Sie die anrührende ursprüngliche Korrespondenz nachlesen möchten: