Lesen Sie hier die dramatische Geschichte eines Bakteriums, das tragischerweise sein geschütztes Zuhause im Darm verlor. Natürlich mit Happy-End, es ist ja Weihnachten.
Backsi, der jüngste Sohn von Paul Prausnitzii und Adelheid Akkermansia Muciniphila hatte es nicht leicht im Darm seiner Wirtin, in dem seine Familie nun schon so lange lebte: Ständig wurde er von seinen älteren Geschwistern gehänselt und drangsaliert, weil er ein ängstliches kleines Bakterium war. Wenn die Älteren sich behände von Darmzotte zu Darmzotte schwangen, blieb er lieber auf dem weichen Teppich der Darmflora und wartete, bis seine Mama zum Abendessen rief.
Immer hatte sie einige der leckersten Ballaststoffe für die Familie aufgetischt – mal war es der Rest eines Chicorée-Blattes, mal ein Hauch Apfelschale. Ihr Wirt, die 75-jährige Oma Elsa, meinte es offenbar gut mit ihnen! Elsa liebte Pellkartoffeln mit Möhren, und morgens gab sie sich hemmungslos dem Haferbrei hin. Nun ja, die starken Winde, die ab und zu durchs Darmland zogen, waren nicht von schlechten Eltern. Der Klimawandel machte eben auch hier nicht halt.
Zuhause im Dickdarm
Das war beileibe nicht immer so gewesen: Wenn die Familie abends nach dem Essen so beisammensaß und Vater Paul seinen Melancholischen bekam (das passierte in der Regel nach einem besonderen Festessen, bei dem leckere kurzkettige Fettsäuren gereicht wurden), holte er gern weit aus, um die tragischen Geschehnisse zu beschwören, die seine Großeltern und Eltern, Tanten und Onkel sowie einige seiner Geschwister aus ihrem gewohnten Zuhause im Dickdarm vertrieben hatten.
Von einem Tag auf den anderen waren nämlich große, dicke Monster-Tabletten („so groß wie U-Boote“, pflegte er an dieser Stelle immer zu sagen) in ihr angestammtes Reich eingedrungen, die sich als „trojanische Pferde“ erwiesen, aus denen sich ganze Heerscharen bewaffneter Krieger ergossen. Erst viel später sollte Backsi erfahren, dass es sich dabei wohl um eine Antibiotika-Armee handelte.
Sie gingen entschlossen und unterschiedslos gegen alle Bakterienvölker vor, derer sie ansichtig werden konnten, und trieben sie mit allen Mitteln in die Flucht – Richtung Rektum. Das aber war, so schwante es den Bedrängten, das Ende ihres beschaulichen Lebens in der warmen, geschützten Darmbehausung. Von wegen „Licht am Ende des Tunnels“!
Überleben in einer Krypte
Dass Paul sich als einer der wenigen in einer der tiefsten Krypten vor den Angreifern verstecken konnte, hatte er wohl nur dem Umstand zu verdanken, dass er schnell unter einen aus seiner Sicht riesigen Hemdknopf kroch, der dort schon jahrzehntelang herumgelegen hatte.
Ach, hätte Oma Elsa doch rechtzeitig auf die Alarmsignale der vielen Immunzellen gehört, die Tag und Nacht im Einsatz waren, um eine Entzündung ihrer Harnwege in den Griff zu bekommen! Stattdessen wurden ihr eben jene „Antibiotika-U-Boote“ verabreicht, die den Terror in den Dickdarm bringen sollten.
Backsi folgte den Ausführungen stets mit großen Augen, während seine älteren Brüder hinter dem Rücken des Vaters Faxen machten, weil sie die Geschichte schon so oft gehört hatten. Er aber liebte es, seinem Vater dabei zuzuhören, wenn er die vielen Verwandten aufzählte, die sich – lange nach dem verheerenden Angriff der „Killer-Armee“ – wieder ansiedeln konnten.
Seit Bakteriengedenken ein Geben und Nehmen
Besonders die Familie seiner Frau Adelheid, die ja eine geborene Akkermansia Muciniphila war, zeigte sich von einer besonderen Hilfsbereitschaft gegenüber Pauls Clan. Na ja, ganz selbstlos war dies sicher nicht, denn die Prausnitziis und Akkermansias betrieben schon seit Bakteriengedenken das einträgliche Geschäft der Produktion von leckeren Essig-, Propoin- und Buttersäuren.
Ohne diese war an das Leben im Darm gar nicht zu denken! Sogar die Leckermäuler unter den Immunzellen im Gehirn fuhren auf diese Säuren ab! Kam die Produktion nicht in Gange, verweigerten diese glatt ihre Arbeit! Da konnte es passieren, dass Oma Elsa dement würde. Nicht auszudenken!
Doch Backsis beschauliches Leben als nützliches Mitglied eines Stammes, von dem sein Vater immer sagte, er gehöre zu den ehrenwertesten im gesamten Verdauungstrakt, sollte schon bald ein jähes Ende finden:
Ausgerechnet Oma Elsa, die sie immer wieder mit ausgewählten Köstlichkeiten verwöhnt hatte, musste eines Tages beschlossen haben, ihren Darm zu spülen. So kam es, dass plötzlich gaaaanz weit unten, wo nach Ansicht des Bakteriellen Ältestenrats die Welt zu Ende war, ein riesiges Rohr eindrang, das unverzüglich einen Tsunami in die heiligen Windungen spülte, der alles mitriss, was sich nicht bei drei in der Darmschleimhaut verkrochen hatte.
Die große Flut
Backsi traf der harte Wasserstrahl voll ins Gesicht. Von einem Moment auf den anderen war er völlig orientierungslos und wurde hin und her geschleudert, bis er nicht mehr wusste, wo Dünndarm und wo Anus war. Als die Strömung zurückfloss, konnte er sich nirgendwo festhalten, und so kam es, dass er schon im zarten Kindesalter sein warmes Zuhause verlor.
Mit dem schwallartigen Verlassen seines „Wirtshauses“ war dieses traumatische Erlebnis für Backsi nicht beendet: Zuerst landete er in einem riesigen See mit steilen weißen Uferwänden, und plötzlich bildete sich in dem See ein mächtiger Strudel, der Backsi durch ein gewaltiges Loch nach unten zog. Backsi hatte hier kurzzeitig einen Filmriss …
Als er wieder zu sich kam, traute er seinen Augen kaum: Er schwamm in einem großen runden Klärbecken, an dessen Ufern Schafe weideten, und wohin er auch blickte – ob Tier oder Pflanze –, alles, wirklich alles war von Bakterien besiedelt! Als Bakterium konnte er nämlich alle anderen Wesen seiner Art sehen. Ihm wurde leicht schwindelig, als er erkannte, dass auch außerhalb seiner bekannten Welt so viele von ihnen lebten, und offensichtlich gar nicht so schlecht!
„Das müssen ja mindestens … keine Ahnung, wie viele das sind“, dachte er. Tatsächlich lässt sich die Anzahl der Bakterien wohl von niemandem erfassen, selbst wenn man (wie Dagobert Duck) in „Tripstrillionen“ zu denken gewohnt ist. Einen Moment lang meinte er, von weitem einige seiner Bekannten entdeckt zu haben, aber sicher war er nicht.
Mit einem Snack im Gepäck
Nach (gefühlt) Jahren des Umherirrens in der Welt führte ein glücklicher Umstand Backsi zurück in die vertrauten, zotteligen Darmwände seiner Jugend. Ausgerechnet auf einem Stück Apfelschale gelangte er in das Mahlwerk der Kiefer von Oma Elsa und so kam er gewissermaßen mit einem leckeren Snack im Gepäck „angesegelt“, als einer seiner Brüder ihn entdeckte und ihm zuwinkte.
War das ein Wiedersehen! Backsi kullerten die Tränen an seiner schleimigen Hülle herunter – erst recht, als er seiner Eltern ansichtig wurde, die ihr Glück kaum fassen konnten. Seine Mama erdrückte ihn beinahe vor Freude, und auch sein Papa verdrückte einige Tränchen, als er seinen Jüngsten in die Arme schloss.
Haarklein musste Backsi berichten, wie es in der Welt jenseits des Ringmuskel-Gebirges aussah, und er freute sich diebisch, diesmal die volle Aufmerksamkeit seiner Geschwister zu haben. Sie konnten es nicht fassen, dass ihr kleiner Bruder – wo doch die Wahrscheinlichkeit so unendlich gering war – es zurück in den heimischen Darm geschafft hatte. Und wenn Backsi ehrlich war, ging es ihm genauso.
Festschmaus für Billionen
Dass seine Eltern und fast alle Geschwister dem Tsunami aus dem großen Rohr hatten standhalten können, war wirklich ein Wunder, und die Tatsache, dass Backsi ausgerechnet an Heiligabend wieder nach Hause gefunden hatte, machte das Wunder perfekt.
Alle Bakterienstämme im Umkreis wurden von den Familien derer Prausnitzii und Akkermansia Muciniphila zu einem fröhlichen Festschmaus eingeladen, die Buttersäure floss in Strömen, und in der Mitte der gesammelten Köstlichkeiten – von Mandelsplittern über Rotkohlfasern bis hin zu einem Stück Knoblauch – thronte der Fetzen Apfelschale, den Backsi „mitgebracht“ hatte.
„Wer hier wohl wen mitgebracht hat!?“ Backsi überhörte diese spöttische Bemerkung eines seiner Brüder. Es machte ihm nichts aus – im Gegenteil: Er konnte sogar herzhaft mitlachen, und nur zu gern kam er jeder Aufforderung nach, mehr Details von seinen Abenteuern in der Außenwelt zu erzählen.
Noch bevor dieser gesellige Abend zuende ging, hatten die versammelten Bakterienstämme – das waren immerhin einige Billionen – alles weggeputzt, was an der Darmschleimhaut hing. Zum Abschluss sangen sie gemeinsam ein Weihnachtslied, in dem sich Tier auf Klistier reimte und Zotten auf Klamotten. Nie zuvor hatten die Bakterien so ein fröhliches Weihnachtsfest gefeiert. Es ging in die Familiengeschichte ein als „der Tag, an dem Backsi wiederkehrte“.
Oma Elsas Gespür für Weh
Oma Elsa hatte ein Gespür für Freuden in ihrem Bauch. Mit einer Wärmflasche und einem leckeren Kamillentee beglückte sie die Familien in ihrem Darm. Der Obstler am Schluss tat ein Übriges, die Party geriet kurzzeitig aus dem Ruder. Naja, es war ja Weihnachten.
Nun wünsche ich Ihnen, liebe Blog-Leser:innen, ein wunderbares Weihnachtsfest ohne Weh und Aber! Feiern Sie die Festtage, wie sie fallen, gemeinsam mit Ihren Freunden. Sie wissen schon, welche…
Herzlich
Ihre Dagmar Praßler
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