Vor Adipositas wird zu Recht – auch von mir – ständig gewarnt, doch auch die gegenläufige Entwicklung nimmt beängstigende Ausmaße an: Immer mehr junge Frauen leiden unter Magersucht. Eine neue Studie wirft die Frage auf, ob Darmbakterien möglicherweise zur Entstehung der Erkrankung beitragen.
Wie subtil unsere Darmbakterien unser Verhalten steuern – ganz direkt über die Darm-Hirn-Achse –, darüber erfahren wir gerade in jüngster Zeit laufend mehr. In meinen Vorträgen provoziere ich gern mit der Aussage, dass es letztlich der Darm ist, der uns die Pizza ordern lässt (oder Ballaststoffe anmahnt).
Dass es freilich auch ins genaue Gegenteil münden kann, wenn das Mikrobiom beschließt, auf nichts mehr Appetit zu haben, geht aus einer hochinteressanten Studie hervor, auf die ich beim „Tagesspiegel Online“ gestoßen bin. Inspiriert wurde sie von der dramatisch steigenden Häufigkeit der Diagnose „Essstörungen“, und untersucht wurde, ob und inwieweit „Bakterien im Darm zur Krankheitsentstehung (hier: Anorexia nervosa, sprich: Magersucht, Anm. DP) beitragen“.
„95Prozent der Betroffenen, die unter Magersucht leiden, sind Frauen“
(Tagesspiegel)
So war es auch nur folgerichtig, dass ausschließlich Frauen an der Studie teilnahmen, genauer: „147 Frauen, von denen 77 an Magersucht litten“. Es zeigte sich, dass „die Essstörung mit einer Veränderung des Mikrobioms verbunden (war), was sich wiederum auf den Stoffwechsel auswirke – und auf Appetit und Stimmung.“
Es waren sämtlich junge Frauen, „im Mittel gut 23 Jahre alt“, deren Darmflora analysiert wurde, und „tatsächlich fanden die Forscher klare Veränderungen: So traten manche Bakteriengruppen bei Frauen mit Anorexia nervosa seltener auf, andere dagegen waren deutlich überrepräsentiert.
Ein gestörtes Darmmikrobiom ist zu allem fähig
Nun weiß man zwar, „dass das Erbgut eine sehr wichtige Rolle bei der Krankheitsentstehung spielen kann, zudem können pubertätsbedingte hormonelle Veränderungen beteiligt sein.“ Doch viel wichtiger erscheint die Frage, „ob Mikroorganismen im Darm unter anderem Appetit, Emotionen und Verhalten beeinflussen und so zur Entstehung der Störung beitragen könnten“, denn das könnte „Anstoß zur Entwicklung möglicher Therapieansätze geben“.
Warum gerade junge Frauen besonders gefährdet sind, eine Essstörung zu entwickeln – darüber habe ich früher schon berichtet und in diesem Zusammenhang auch auf eine gestörte Eigenwahrnehmung verwiesen, die ihnen oftmals vorgaukelt, sie seien trotz Untergewicht „zu dick“:
Neurotransmitter unter Einfluss
Falls tatsächlich „eine ursächliche Beteiligung des Mikrobioms an der Entstehung der Essstörung“ vorliegt (was noch nicht hinreichend erwiesen scheint), ist die Erklärung zumindest sehr plausibel, denn: „Die veränderte Darmflora und ihre Stoffwechselprodukte könnten sich auf die Bildung verschiedener Neurotransmitter wie etwa Serotonin, Dopamin und Glutamat auswirken,“ und dies „könne sowohl die Stimmung als auch Appetit und Essverhalten beeinflussen.“
Eine Kritikerin der Studie, die Psychiaterin und Expertin für Essstörungen Beate Herpertz-Dahlmann, hält es für „möglich, dass die Essstörung selbst durch unzureichende und veränderte Nahrungsaufnahme über Jahre hinweg die Zusammensetzung der Darmflora verändere“, und ganz konkret bemängelt sie, „dass die Studie keine Angaben dazu enthält, wie lange die Teilnehmerinnen bereits unter der Essstörung litten“.
Wie so oft stellt sich auch hier die „Frage nach der Henne und dem Ei“: Ob z. B. bestimmte Darmbakterien einen Morbus Alzheimer „triggern“ oder umgekehrt die Krankheit für Veränderungen des Darmmikrobioms sorgt – diese Frage beschäftigt auch die Alzheimer-Forschung, wie ich hier beschrieben habe:
Die Autoren der vorliegenden Anorexie-Studie hingegen sehen ihre Hypothese, „dass ein schwer gestörtes Darmmikrobiom zu manchen Prozessen in der Entstehung der Anorexia nervosa beiträgt“, durch die Ergebnisse hinreichend bestätigt, zumal eine Überprüfung an jungen keimfreien Mäusen vorgenommen wurde, denen der Stuhl der Probandinnen transplantiert worden war:
„Jene Tiere, die Fäkalien von Frauen mit Anorexia nervosa erhalten hatten, wiesen nach den drei Wochen weniger Körpergewicht auf. Das änderte sich auch dann nicht grundlegend, als die Tiere nach Belieben fressen konnten. Generell waren bei ihnen im Fettgewebe und im Hirnareal des Hypothalamus Gene für Proteine aktiviert, die etwa an Sattheitsgefühl und Stimmung beteiligt sind.“
Auch wenn sie es sehr vorsichtig formulieren, vermuten die Forscher doch: „Sowohl Serotoninaktivität als auch Appetitregulierung könnten an Entwicklung und/oder Beibehaltung des AN-Syndroms (Anorexia nervosa, Anm. DP) beteiligt sein.“
Zur heilenden Wirkung lebender Bakterien
Angesichts der stetig wachsenden Zahl von Essstörungs-Patientinnen ist jede Studie in dieser Richtung sehr zu begrüßen, denn das Problem ist: „Viele Betroffene würden nicht vollständig geheilt“, selbst wenn sie therapiert würden.
Das weiß ich nur zu gut, denn auch ich habe in meiner langjährigen Praxis mit Anorexie-Patientinnen zu tun gehabt, für die es eine große Herausforderung war, „zuzunehmen und dann ihr Gewicht zu halten“.
Glücklicherweise werde „in Studien etwa geprüft, während der Therapie die Ernährung mit bestimmten Nährstoffen wie Omega-3-Fettsäuren oder mit lebenden Bakterien anzureichern, um die Darmflora gezielt zu verändern.“
Dass dies zwar eine naheliegende, aber keine ganz neue Idee ist, muss ich Ihnen als Leser:in meines Blogs nicht erklären. Wenn Sie nachlesen möchten, welche Probiotika ich ganz konkret bei einer Essstörung zur Einnahme empfehle, verweise ich auf den oben verlinkten Bulimie-Artikel.
Sehr nachdenklich stimmte mich der Verweis auf die „psychosoziale Komponente. So sei die Anzahl der stationär behandelten Jugendlichen und Kinder in Deutschland während der Covid-Pandemie und der damit einhergehenden Lockdowns um 30 bis 40 Prozent gestiegen.“
Umso wichtiger sind alle Bemühungen, den Ursachen dieser Erkrankung nachzuspüren und nachhaltige Therapiekonzepte zu entwickeln.
Herzlich, Ihre
Dagmar Praßler
* Alle wörtlichen Zitate entstammen einem Artikel, der im Mai 2023 auf dem Online-Portal des Tagesspiegel veröffentlicht wurde. © Walter Willems, dpa
Anorexia
In meinem Blog beschreibe ich regelmäßig Erfahrungen aus meiner Praxis, insbesondere den Verlauf einiger konkreter Behandlungen. Ich weise darauf hin, dass die beschriebenen Verläufe Einzelfälle sind und keine allgemein verbindlichen Rückschlüsse daraus gezogen werden können. Andere Menschen können anders reagieren, auch wenn sie die gleiche Behandlung erfahren. Neben den von mir beschriebenen Produkten gibt es fast immer auch weitere von anderen Herstellern.
Es handelt sich in den Beschreibungen um meine subjektiven Wahrnehmungen, ein Heilversprechen ist darin nicht zu sehen. Bei Beschwerden sollten Sie grundsätzlich ärztlichen Rat oder den einer Heilpraktikerin / eines Heilpraktikers einholen.
Im Wechsel zu den Berichten aus der Praxis widme ich mich hier aber auch (unter dem Rubrum „News“) aktuellen Studien, die ich für erwähnenswert halte oder einen direkten Bezug zum Mikrobiom haben. Auch hier handelt es sich ausschließlich um redaktionelle Beiträge